Zum Inhalt springen

Immobiliarsachenrecht – Notweg: Abgeschnittenheit + rechtsmissbräuchliches Verhalten

ZGB 694 Abs. 1 und 2

Im konkreten Fall stand der Anspruch auf ein Notweg in Frage.

Dabei stellte sich die Frage der Anrechenbarkeit des missbräuchlichen Verhaltens des für die Abgeschnittenheit verantwortlichen früheren Grundeigentümers:

  • Dem Erben des Grundeigentümers, welcher die Abgeschnittenheit verursacht hat, kann die von seinem Rechtsvorgänger bewusst geschaffene Wegenot nicht entgegengehalten werden.

Kriterien der früheren Wegverhältnisse im konkreten Fall:

  • Primär
    • Gemäss Art. 694 Abs. 2 ZGB richtet sich der Anspruch auf Gewährung des Notweges
      • in erster Linie
        • gegen den Nachbarn der früheren Eigentums- und Wegverhältnisse wegen am ehesten zugemutet werden darf,
      • in zweiter Linie
        • gegen denjenigen, für den der Notweg am wenigsten schädlich ist.
  • Sekundär
    • Wenn
      • die Notwendigkeit eines Anspruchs auf einen Notweg anerkannt ist und
      • mehrere benachbarte Grundstücke eine Zufahrt an die öffentliche Strasse anbieten,
      • Iegt – in dritter Linie – Art. 694 Abs.2 ZGB die Rangfolge fest
    • (vgl. BGE 5A_7j7/2017 vom 29.01.2018, Erw. 4.4.1; BGE 5C.246/2004 vom 02.03.2005, Erw. 2.2 = SJ 2005 I 481 mit Hinweis).
  • Tertiär
    • Tertiär werden die früheren Eigentums- und Wegverhältnisse berücksichtigt, wenn
      • die Parzelle nach der Aufteilung eines Grundstücks oder
      • einer Übertragung einer anstossenden Parzelle an den gleichen Eigentümer
      • keine Zufahrt mehr zu der öffentlichen Strasse hat,
        • wird der Weg auf der Parzelle bewilligt,
          • die noch eine Zufahrt zu der Strasse hat
      • (vgl. BGer 5A_777/2017, a.a.O.; BGer 5C.246/2004, a.a.O., Erw. 2.2.1 mit Hinweisen).
    • Die bestehenden Wegverhältnisse, die aber ungenügend im Hinblick auf die aktuellen Bedürfnisse sind,
      • insbesondere,
        • weil der Weg zu schmal ist oder
        • keine Zufahrt mit einem Motorfahrzeug erlaubt,
        • müssen mitberücksichtigt werden;
      • in einem solchen Fall ist der Notweg vom Eigentümer des Grundstücks geschuldet,
        • auf dem das bestehende Durchfahrtsrecht geltend gemacht wird,
          • wenn eine hinreichende Zufahrt über dieses Grundstück möglich ist
      • (vgl. BGer 5C.24612004, a.a.O., 8.2.3).
    • Nur wenn kein anderes Grundstück diesen Kriterien entspricht,
      • das heisst,
        • wenn die Notlage nicht aus einer Änderung der Eigentums- oder Wegverhältnisse hervorgeht,
          • kann der Anspruch eines Weges vom Eigentümer verlangt werden,
            • auf dessen Grundstück der Weg am wenigsten schädlich ist
      • (vgl. BGer 5A_777/2017, a.a.O., mit Hinweisen; BGer 5C.246/2004, a.a.O., Erw. 2.2.2 mit Hinweisen).
  • Zeitliche Begrenzung
    • Die Frage, ob man eine zeitliche Begrenzung dem Kriterium der ehemaligen Eigentumsverhältnisse gegenüberstellen kann,
      • kann hier unentschieden bleiben,
        • wobei anzumerken ist, dass es letztlich aus einer Abwägung der Interessen der Eigentümer besteht, die geeignet sind, mit einem Notweg belastet zu werden,
          • die von der Lehre zugelassen ist, um die von Art. 694 Abs. 2 ZGB festgelegte Prioritätenordnung abzuschwächen.
  • Unbestrittener Sachverhalt
    • Es ist im Übrigen unbestritten, dass die Parzelle Nr. 171 bereits über eine Dienstbarkeit eines Weges für alle Fahrzeuge auf der Parzelle Nr.172 verfügt,
      • aber dass sie trotz allem keine hinreichende Zufahrt über die ganze Fläche ermöglicht:
        • Die motorisierte Zufahrt ist nur bis zur Garage möglich und ihr Ausbau ist darüber hinaus in Anbetracht der Treppe, die in steilem Gelände zum Haus auf der Parzelle Nr. 172 führt, nicht mehr denkbar.
  • Weitere Ausführungen der Beschwerdeführerin zur Dienstbarkeit «zu Fuss»
    • Man hat daher Mühe, die Behauptung der Beschwerdeführerin zu verstehen, die sich auf die Tatsache einer Dienstbarkeit «zu Fuss» stützt, die bereits zu Lasten der Parzelle Nr.172 und zugunsten der Beschwerdegegnerin existieren würde und die dem kantonalen Gericht vorwirft, nicht geprüft zu haben, ob die Einrichtung einer Dienstbarkeit denkbar wäre, die eine motorisierte Zufahrt erlauben würde.
      • Daraus folgt, dass eine Beschwerde zu einem Ausbau eines Weges gemäss dem Kriterium, das den Eigentümern der Grundstücke am wenigsten Schaden zufügen würde, als begründet erscheint.
      • Die in diesem Kontext von den kantonalen Richtern vorgenommene Abwägung wird von der Beschwerdeführerin unberührt gelassen; es ist entsprechend nicht darauf zurückzukommen.

All dies führte dazu, dass die Beschwerde abzuweisen war und die Kosten ihrem Urheber aufzuerlegen waren.

Beschwerdeabweisung.

BGer 5A_307/2023 vom 15.01.2024   =   BGE 150 III 17 ff.

Praxis 11/2024 Nr. 73, S. 1009 ff.

7. Wegrechte
a. Notweg

Art. 694 ZGB

1Hat ein Grundeigentümer keinen genügenden Weg von seinem Grundstück auf eine öffentliche Strasse, so kann er beanspruchen, dass ihm die Nachbarn gegen volle Entschädigung einen Notweg einräumen.

2 Der Anspruch richtet sich in erster Linie gegen den Nachbarn, dem die Gewährung des Notweges der früheren Eigentums- und Wegeverhältnisse wegen am ehesten zugemutet werden darf, und im weitern gegen denjenigen, für den der Notweg am wenigsten schädlich ist.

3 Bei der Festsetzung des Notweges ist auf die beidseitigen Interessen Rücksicht zu nehmen.

Weiterführende Informationen

Quelle

Bürgi Nägeli Rechtsanwälte