Selbständige Erwerbstätigkeit: Anerkennungsvoraussetzungen der AHV

Scheinselbständigkeit?

Sachverhalt

Die 1964 geborene B. _____ meldete sich anfangs 2012 bei der Ausgleichskasse des Kantons Aargau als Selbständigerwerbende mit dem Firmennamen „C. _____“ an. Sie erklärte, ihre Tätigkeit beinhalte die Beratung und den Verkauf von Vitalprodukten der D. _____ GmbH. Gestützt auf die vorgenommenen Abklärungen verneinte die Ausgleichskasse eine selbständige Erwerbstätigkeit für die Vermittlung von Produkten der E. _____ GmbH ab 01.01.2011.

Diese von B. _____ dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab. Das Bundesgericht hiess am 18.07.2014 die von B. _____ eingereichte Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten in dem Sinne gut, dass es den vorinstanzlichen Entscheid aufhob und die Sache an die Ausgleichskasse zurückwies; die Ausgleichskasse hatte ihren Einsprache-Entscheid nur B. _____ und nicht auch der allenfalls abrechnungs- und beitragspflichtigen Arbeitgeberin eröffnet; auch hatte das kantonale Versicherungsgericht diese nicht zum Verfahren beigeladen.

In Nachachtung des bundesgerichtlichen Urteils vom 18.07.2014 entschieden die kantonalen Instanzen – dieses Mal unter Wahrung des rechtlichen Gehörs der A. _____ GmbH, wiederum negativ. Die A. _____ GmbH und B. _____ erhoben in einer gemeinsamen Eingabe Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, beantragten, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei der sozialversicherungsrechtliche Status der B. _____ als Selbständigerwerbende seit 01.01.2011 zu bestätigen (weiterer Antrag zur Kosten- und Entschädigungspflicht im Zusammenhang mit dem früheren Verfahren).

Streitgegenstand

Streitig ist, ob die Tätigkeit von B für die Mitbeschwerdeführerin A als selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit zu qualifizieren ist. Diese beitragsrechtliche Qualifikation ist eine frei überprüfbare Rechtsfrage. Die Sachverhaltselemente, die der Schlussfolgerung zu Grunde liegen, beschlagen dagegen Tatfragen (Urteile 9C_246/2011 vom 22.11.2011 E. 3 und 9C_799/2011 vom 26.03.2012 E. 2).

Erwägungen

Das Bundesgericht grenzt die Einkommen aus selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit wie folgt ab:

  • Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit
    • Erhebungsgegenstand
      • paritätische Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge (Art. 5 Abs. 1 und Art. 13 AHVG)
    • Lohn
      • Entgelt für in unselbständiger Stellung auf bestimmte oder unbestimmte Zeit geleistete Arbeit, mit Einschluss von Teuerungs- und anderen Lohnzulagen, Provisionen, Gratifikationen, Naturalleistungen, Ferien- und Feiertagsentschädigungen und ähnlichen Bezügen, sowie Trinkgeldern, soweit diese einen wesentlichen Bestandteil des Arbeitsentgeltes darstellen (Art. 5 Abs. 2 AHVG)
    • Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit
      • Erhebungsgegenstand
        • Beitrag des Selbständigerwerbenden (Art. 8 AHVG)
      • Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit
        • jedes Erwerbseinkommen, das nicht Entgelt für in unselbständiger Stellung geleistete Arbeit darstellt (Art. 9 Abs. 1 AHVG).

Nach der Rechtsprechung beurteilt sich die Frage, ob im Einzelfall selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit vorliegt, wie folgt:

  • Unmassgeblichkeit
    • Rechtsnatur des Vertragsverhältnisses zwischen den Parteien
  • Massgeblichkeit
    • wirtschaftliche Gegebenheiten
    • zivilrechtliche Verhältnisse (ohne jedoch ausschlaggebend zu sein)
    • Einstufung als unselbständige Erwerbstätigkeit im Allgemeinen
      • Abhängigkeit in betriebswirtschaftlicher bzw. arbeitsorganisatorischer Hinsicht
      • Nichttragung eines spezifischen Unternehmerrisikos
    • Keine einheitlichen, schematisch anwendbaren Lösungen infolge der Vielfalt der im wirtschaftlichen Leben anzutreffenden Sachverhalte
      • Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalles
      • Überwiegen der Merkmale im konkreten Einzelfall, weil vielfach die Merkmale beider Erwerbsarten zu Tage treten

Das Bundesgericht prüfte diese Kriterien im konkreten Beschwerdefall aufgrund der Vorbringen der beiden Beschwerdeführerinnen. Dabei ergab sich stichwortartig zusammengefasst folgendes:

  • Miete Büro- und Lagerraum von B. _____ bei ihrem Ehemann F. _____ im gemeinsam benutzten Wohnhaus
    • Gegenstand
      • Wenig Raum für sehr wenig Miete
    • (Zwischen-)Beurteilung
      • Kein Hinweis für ein namhaftes Unternehmerrisiko
    • Messeauftritte
      • Gegenstand
        • Nicht aktuelle Dokumente mit teils auf andere Personen ausgestellte Ausstellerverträge, in welchen B. _____ sich lediglich als „verantwortliche Person“ bezeichnete uam
      • (Zwischen-)Beurteilung
        • Kein Vorliegen einer selbständigen Erwerbstätigkeit von B. _____, sondern vielmehr Nachweis von Indizien für ein Abhängigkeitsverhältnis, wie dies für eine unselbständige Erwerbstätigkeit charakteristisch ist
    • Vertrag zwischen der A. _____ GmbH und B. _____
      • Vertriebsmassnahmen
        • Gegenstand
          • Restriktionen für die Verkaufstätigkeit (Verbot für Verkäufe über Zwischenhändler, Internetauktionen, Internetshops, Messen etc. ohne vorherige ausdrückliche Genehmigung)
        • (Zwischen-)Beurteilung
          • Rückschluss auf Subordinationsverhältnis (unselbständige Erwerbstätigkeit)
      • Weitere Bestimmungen
        • Gegenstand
          • Einschränkende Regeln betreffend Werbetätigkeit/Logoverwendung, teilweises Konkurrenzverbot, Mindestumsatzregelung für den Provisionsanspruch aus gewonnenen Vertriebspartnern, Verbindlichkeitsregelungen betreffend Marketingplan und Beraterhandbuch, Restriktionen bezüglich bestimmter Absatzkanäle, Geschäftsübergabe, Verbot von Geschäftsaktivitäten und Ausschluss von Meetings etc.)
        • (Zwischen-)Beurteilung
          • Rückschluss auf Subordinationsverhältnis (unselbständige Erwerbstätigkeit)
    • Fakturierung der bestellten Produkte
      • Gegenstand
        • Rechnungsstellung durch die A. _____ GmbH
      • (Zwischen-)Beurteilung
        • Erhärtung der Annahme, dass die A. _____ GmbH durch Auslieferung de Produkte und deren Fakturierung die massgebenden Geschäfte führe und B. _____ nur in einer untergeordneten Funktion (für welche sie auf Provisionsbasis entlöhnt werde) für die A. _____ GmbH tätig sei
    • Motorfahrzeugleasing
      • Gegenstand
        • Leasing des nicht nur geschäftlich, sondern auch privat genutzten PW der Marke Renault
      • (Zwischen-)Beurteilung
        • Praxisgemäss keine ins Gewicht fallende, für ein Unternehmerrisiko sprechende Investition
    • Verteilstruktur
      • Gegenstand
        • Angeblich eigene Verteilstruktur, in der mehr als 100 selbständige Berater tätig seien
      • (Zwischen-)Beurteilung
        • Personalaufwand von CHF 531.40 (1,2 % des Bruttogewinns von CHF 42‘868.56) deute nicht auf eine namhafte Personalbeschäftigung hin
    • Inkasso- und Delekredererisiko
      • Gegenstand
        • Kein Inkasso- und Delkredererisiko für die von der A. _____ GmbH gelieferte Ware, da die A. _____ GmbH die Produkte verschickt und die Inkassoverluste zu tragen hat (einzig Provisionsschmälerung von B. _____)
      • (Zwischen-)Beurteilung (Anmerkung der Redaktion)
        • Absenz eines Unternehmerrisikos
    • Frühere Tätigkeit von B. ______
      • Gegenstand
        • Führung eines Kosmetik- und Nagelstudios
      • (Zwischen-)Beurteilung
        • Wesentliche andere Tätigkeit (als die heutige), aus der sich nichts für die Qualifikation der Tätigkeit von B. _____ bei der A. _____ GmbH ableiten lasse.

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass bei der gegebenen Sachlage der Entscheid der Vorinstanz, wonach die Tätigkeit von B. _____ als unselbständige Erwerbstätigkeit für die A. _____ GmbH zu qualifizieren sei, kein Bundesrecht verletze.

Entscheid

Die Beschwerde wurde daher abgewiesen und die Gerichtskosten den Beschwerdeführerinnen zu gleichen Teilen und unter solidarischer Haftung auferlegt.

Quelle

BGE 9C_377/2015 vom 22.10.2015

Weiterführende Informationen / Linktipps

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