Erbrecht – Öffentliche letztwillige Verfügung: Prüfung des Widerrufs durch die Eröffnungsbehörde?

ZGB 557 – 559; ZGB 509 Abs. 1; ZGB 510 Abs. 1

Die Vernichtung einer öffentlichen letztwilligen Verfügung durch eine Drittperson ohne schriftliche Ermächtigung der Erblasserin ist derart delikat, dass im Rahmen des Testamentseröffnungsverfahrens ein gültiger Widerruf im Sinne von ZGB 510 Abs. 1 nicht angenommen werden darf und soll.

Sachverhalt

«… Am xx.xx.2022 verstarb C.A.________ (Erblasserin). Mit Schreiben vom 20. Juli 2022 reichte D.________ dem Bezirksgericht Meilen eine Kopie einer öffentlichen letztwilligen Verfügung der Erblasserin vom 24. Mai 2016 ein. Gemäss dieser setzte die Erblasserin ihren Sohn, A.________, auf seinen gesetzlichen Pflichtteil und für die frei verfügbare Quote zu gleichen Teilen D.________ und B.________ als Erben ein. Ausserdem setzte die Erblasserin Vermächtnisse aus und E.________ als Willensvollstreckerin ein.  

… Das Bezirksgericht eröffnete die bei ihm eingereichte öffentliche letztwillige Verfügung (Entscheid vom 11. August 2022). Es stellte dem gesetzlichen und den eingesetzten Erben eine Erbbescheinigung in Aussicht, sollte ihre Berechtigung nicht innert Monatsfrist bestritten werden. Am 13. September 2022 erhob A.________ Einsprache gegen die Ausstellung der Erbbescheinigung. Mit Entscheid vom 16. September 2022 ordnete das Bezirksgericht die Erbschaftsverwaltung an und beauftragte damit die Willensvollstreckerin.  

… Mit Eingabe vom 11. Oktober 2022 reichte A.________ dem Bezirksgericht ein Gesuch um Wiedererwägung (im Sinn von Art. 256 Abs. 2 ZPO) ein und machte im Wesentlichen geltend, das eröffnete Testament sei von der Erblasserin zurückgezogen und in der Folge vernichtet worden.»

Prozess-History

  • Bezirksgericht
    • Mit Entscheid vom 18. Oktober 2022 zog das Bezirksgericht seinen Entscheid vom 11. August 2022 in Wiedererwägung, hob ihn, ohne zuvor D.________ und B.________ angehört zu haben, auf und stellte nur noch A.________ die Ausstellung eines Erbenscheins in Aussicht.
    • Zudem setzte es das am 5. August 2022 ausgestellte Willensvollstreckerzeugnis ausser Kraft und nahm zudem Vormerk davon, dass A.________ seine Einsprache gegen die Ausstellung einer Erbbescheinigung zurückgezogen hatte.  
  • Obergericht des Kantons Zürich
    • Gegen diesen Entscheid des Bezirksgerichts erhob B.________ Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich (OGZ).
    • Mit Entscheid vom 14. Februar 2023 hiess das OGZ das Rechtsmittel gut, hob den Entscheid des Bezirksgerichts vom 18. Oktober 2022 auf und wies das Gesuch vom 11. Oktober 2022 um Wiedererwägung des Entscheids vom 11. August 2022 kostenfällig ab.
  • Bundesgericht
    • Mit Beschwerde vom 20. März 2023 wendet sich A.________ (Beschwerdeführer) an das Bundesgericht, welchem er beantragte, den Entscheid des OGZ vom 14. Februar 2023 aufzuheben und jenen des Bezirksgerichts vom 18. Oktober 2022 vollumfänglich zu bestätigen; eventualiter sei die Sache zu neuem Entscheid an das OGZ zurückzuweisen.

Erwägungen

Das Bundesgericht (BGer) hat in dieser vielschichtigen Sache folgendes erwogen:

  • Testamentseröffnung
    • Verfahrensart
      • Die Testamentseröffnung gemäss ZGB 557 ist ein Akt der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
  • Erbschein
    • Verfahrensart
      • Auch die Ausstellung einer Erbenbescheinigung untersteht der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
    • Antragsprinzip
      • Die Erbenbescheinigung wird nicht von Amtes wegen, sondern nur auf ausdrückliches Begehren hin ausgestellt (vgl. ZGB 559 Abs. 1).
    • Legitimationsprüfung
      • Die Kognition der zuständigen Behörde darüber, wer
        • Anspruch auf Ausstellung einer Erbenbescheinigung hat und
        • darin in einer bestimmten Stellung oder Funktion aufzuführen ist,

ist

  • beschränkt und
  • provisorisch.
  • Erbscheinergebnis
    • Die Ausstellung der Erbenbescheinigung basiert auf einer
      • vorläufigen Beurteilung der Rechtslage und Rechtsnachfolge.
    • Grundlage hierfür bilden
      • die gesetzliche Erbfolge,
        • welche die Behörde ermittelt anhand von
          • Familienausweisen oder
          • Auszügen aus dem Personenstandsregister

und

  • allfällige eröffnete (vgl. ZGB 557) und mitgeteilte (ZGB 558) Verfügungen von Todes wegen,
    • welche die Behörde auch dann zu berücksichtigen hat,
      • falls sie diese aufgrund einer provisorischen Auslegung für ungültig oder anfechtbar hält.
  • Keine Auseinandersetzung mit der materiellen Rechtslage
    • Der Ausstellung einer Erbenbescheinigung geht aber keine Auseinandersetzung über die materielle Rechtslage voraus.
  • Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für die materielle Beurteilung
    • Mit der abschliessenden Auslegung von Testamenten und Erbverträgen sowie mit der Frage, ob einer Person Erbenstellung zukommt,
      • befasst sich das ordentliche Gericht und nicht die Behörde, welche die Erbenbescheinigung ausstellt.
  • Rechtsnatur des Erbscheins: provisorische Legitimationsurkunde
    • Die Ausstellung der Erbbeschei­nigung beinhaltet eine vorläufige Beurteilung der Rechtsnachfolge,
      • ohne Rechtskraftwirkung,
      • jederzeit abänderbar,
      • vorbehältlich der Ungültigkeits-, Herabsetzungs-, Erbschafts- und Feststellungsklagen.
  • Bestandesdauer der Erbenbescheinigung
    • Die Erbenbescheinigung verliert ihre Bedeutung als Legitimationsausweis,
      • sobald ein rechtskräftiges Urteil des Zivilgerichts über eine erbrechtliche Klage vorliegt,

und

  • wird damit gegenstandslos, ohne dass sie nichtig erklärt werden müsste.
  • Rückziehbarkeit durch die Ausstellungsbehörde
    • Die Erbenbescheinigung kann durch die ausstellende Behörde
      • zurückgezogen werden
        • von Amtes wegen oder
        • auf Gesuch hin
      • und ersetzt werden durch
        • eine neue, korrigierte,
          • sobald sie sich materiell als fehlerhaft erweist.
    • Dabei bezieht sich die materielle Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit einer Erbenbescheinigung nicht auf die materielle Rechtslage,
      • da diese im Verfahren betreffend die Ausstellung einer Erbenbescheinigung ja gerade nicht geprüft wird.
    • Daher hat die Eröffnungsbehörde die Erbenbescheinigung nur zu korrigieren,
      • falls sich dies aufgrund urkundlicher Belege aufdrängt,
        • gestützt auf die sie die Erbenbescheinigung auszustellen gehalten ist (vgl. zum Ganzen: Urteil 5A_757/2016 vom 31. August 2017 E. 3.3.3 f. mit Hinweisen).  
  • Widerruf von öffentlichen letztwilligen Verfügungen
    • Widerrufsformen
      • durch Erblasser
        • Der Erblasser kann seine letztwillige Verfügung jederzeit widerrufen:
        • in einer der Formen, die für die Errichtung vorgeschrieben sind (ZGB 509 Abs. 1);
        • durch die Vernichtung der Urkunde vernichtet (ZGB 510 Abs. 1).
      • durch Zufall
        • Wird die Urkunde durch Zufall oder aus Verschulden anderer vernichtet,
          • so verliert die Verfügung unter Vorbehalt der Ansprüche auf Schadenersatz gleichfalls ihre Gültigkeit,
            • sofern und soweit ihr Inhalt nicht genau und vollständig festgestellt werden kann (ZGB 510 Abs. 2).
    • Wirkungen von Vernichtung oder Untergang
      • bei Erblasser-Vernichtung
        • Wird die Urkunde vom Erblasser selbst in der Aufhebungsabsicht vernichtet,
          • so ist die Verfügung unwirksam;
          • tritt die Rechtsfolge nicht deswegen ein, weil die Urkunde nicht mehr vorhanden ist, sondern weil die Vernichtung durch den Erblasser eine der im Gesetz vorgesehenen Widerrufsformen darstellt.
    • Vernichtung einer öffentlich beurkundeten letztwilligen Verfügung
      • Handelt es sich um eine öffentlich beurkundete letztwillige Verfügung (ZGB 499),
        • muss diese selbst vernichtet werden;
        • zeitigt die Vernichtung einer Kopie derselben die Wirkungen des Widerrufs nicht.
      • Darf der Notar, der eine letztwillige Verfügung öffentlich beurkundet hat, diese nach Massgabe des kantonalen Rechts nicht herausgeben,
        • kann sich der Erblasser an den Notar wenden und
        • diesen mit der Vernichtung der öffentlichen Urkunde beauftragen.  
  • Prüfung des Widerrufswillens durch die Eröff­nungsbehörde?
    • Verfügungsrückzug bei der amtlichen Hinterlegungsstelle ist keine Vernichtung
      • Vorliegend fehlte es an hinreichenden Hinweisen auf einen klaren, auf die Vernichtung des Testaments gerichteten Widerrufswillen der Erblasserin.
      • Das einzige Dokument vom Tag des angeblichen Widerrufs sei der
        • „Empfangsschein der Verfügung Nr. xxx“, mit dem die Erblasserin gegenüber dem Notariat quittiert habe, ein „Kuvert: offen, enthaltend öffentliches Testament“ am 9. Juli 2022 empfangen zu haben mit dem „Grund: Rückzug“.
      • Aus diesem Empfangsschein liess sich kein Widerrufswillen der Erblasserin ableiten, könne doch ein Erblasser gestützt auf § 122 der zürcherischen Notariatsverordnung vom 23. November 1960 (NotVo/ZH; LS 242.2) sein Testament gegen Empfangsschein herausverlangen und lasse das Zurückziehen des Testaments von der Depotstelle für sich allein nicht auf einen Widerruf schliessen.
    • Zwischenfazit
      • Unter den hier gegebenen Umständen erschien eine Vernichtung durch eine Drittperson ohne schriftliche Ermächtigung oder einen anderen Nachweis seitens der Erblasserin in rechtlicher Hinsicht derart heikel, dass im Rahmen des Testamentseröffnungsverfahrens kein gültiger Widerruf im Sinne von ZGB 510 Abs. 1 anzunehmen sei.
  • Keine Beurteilung des Widerrufs im konkreten Fall
    • Vorinstanzliche Beurteilung
      • Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hat das Obergericht des Kantons Zürich (Vorinstanz) nicht geprüft, ob der Widerruf des Testaments sowie die Vernichtung des Testaments durch die Erblasserin bzw. durch den von dieser beauftragten Notar gültig sei oder nicht.
      • Vielmehr habe die Vorinstanz, die Fragen, welche im vorliegenden Fall zu beantworten seien, wie folgt erwogen:
        • Form und Rahmen einer Anweisung oder eines Auftrags an einen Dritten:
          • Ergebnis: Nichtvorliegen der schriftlichen Ermächtigung oder eines anderen Nachweises seitens der Erblasserin;
        • Art des Vorgehens des Dritten:
          • Das Vorgehen des Dritten war zu heikel, als dass „im Rahmen der Testamentseröffnung“ ein Widerruf im Sinne von ZGB 510 Abs. 1 anzunehmen sei.
    • Zwischenergebnis
      • Der Widerruf im Sinne von ZGB 510 Abs. 1 darf in die­sem Fall nicht im Rahmen der Testamentseröffnung durch die Er­öffnungsbehörde beurteilt werden.
  • Fazit
    • Die Kopie der öffentlichen letztwilligen Verfügung bleibt so lange beachtlich, als nicht nachgewiesen ist, dass der Verlust des Originals auf einer gültigen willentlichen Vernichtung beruht.

Entscheid des Bundesgerichts

  • Abweisung der Beschwerde in Zivilsachen, sofern darauf eingetreten werden konnte, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.

BGer 5A_221/2023 vom 05.07.2023

II. Eröffnung

Art. 557 ZGB

1 Die Verfügung des Erblassers muss binnen Monatsfrist nach der Einlieferung von der zuständigen Behörde eröffnet werden.

2 Zu der Eröffnung werden die Erben, soweit sie den Behörden bekannt sind, vorgeladen.

3 Hinterlässt der Erblasser mehr als eine Verfügung, so sind sie alle der Behörde einzuliefern und von ihr zu eröffnen.

III. Mitteilung an die Beteiligten

Art. 558 ZGB

1 Alle an der Erbschaft Beteiligten erhalten auf Kosten der Erbschaft eine Abschrift der eröffneten Verfügung, soweit diese sie angeht.

2 An Bedachte unbekannten Aufenthalts erfolgt die Mitteilung durch eine angemessene öffentliche Auskündung.

Art. 559 ZGB

IV. Auslieferung der Erbschaft

1 Nach Ablauf eines Monats seit der Mitteilung an die Beteiligten wird den eingesetzten Erben, wenn die gesetzlichen Erben oder die aus einer früheren Verfügung Bedachten nicht ausdrücklich deren Berechtigung bestritten haben, auf ihr Verlangen von der Behörde eine Bescheinigung darüber ausgestellt, dass sie unter Vorbehalt der Ungültigkeitsklage und der Erbschaftsklage als Erben anerkannt seien.

2 Zugleich wird gegebenen Falles der Erbschaftsverwalter angewiesen, ihnen die Erbschaft auszuliefern.

II. Widerruf und Vernichtung

1. Widerruf

Art. 509 ZGB

1 Der Erblasser kann seine letztwillige Verfügung jederzeit in einer der Formen widerrufen, die für die Errichtung vorgeschrieben sind.

2 Der Widerruf kann die Verfügung ganz oder zum Teil beschlagen.

2. Vernichtung

Art. 510 ZGB

1 Der Erblasser kann seine letztwillige Verfügung dadurch widerrufen, dass er die Urkunde vernichtet.

2 Wird die Urkunde durch Zufall oder aus Verschulden anderer vernichtet, so verliert die Verfügung unter Vorbehalt der Ansprüche auf Schadenersatz gleichfalls ihre Gültigkeit, insofern ihr Inhalt nicht genau und vollständig festgestellt werden kann.

Weiterführende Informationen

Quelle

Redaktionsteam Bürgi Nägeli Rechtsanwälte

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