Vertragsrecht / Ungerechtfertigte Bereicherung – Baubewilligungsverfahren: Entgeltlicher Baueinsprache-Rückzug zulässig

OR 20 Abs. 1, OR 21 und OR 63 Abs. 1

Einleitung

Entschädigt der Bauherr den Baueinsprecher für den Rückzug der Baueinsprache, bedingt ein Rückerstattungsanspruch aus dem entgeltlichen Verzichtsvertrag den Nachweis einer Zwangslage des Bauherrn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses oder eine eng bestimmte Ausnahmekonstellation.

Sachverhalt

«A.a. Die A.________ AG (Klägerin, Beschwerdeführerin) entwickelte zusammen mit der C.________ AG ein Bauprojekt, das ein Logistikcenter für die D.________ auf der Liegenschaft Nr. xxx, in U.________, Grundbuch V.________, beinhaltete. Das entsprechende Baugesuch lag vom 29. Oktober bis 17. November 2015 auf. Die Baubewilligung wurde Ende 2015 erteilt und trat in Rechtskraft.  

Mit Grundstückkaufvertrag vom 22. Dezember 2015 zwischen der Klägerin und der E.________ Limited (nachfolgend: Erwerberin), wurde die Parzelle mit Bauverpflichtung (schlüsselfertige Erstellung des Logistikgebäudes) verkauft. Das Eigentum sollte nach Fertigstellung des Gebäudes und erfolgter Übergabe an die D.________ Immobilien AG (nachfolgend: Mieterin) abgetreten werden. Falls das Gebäude der Mieterin nicht bis zum 1. März 2017 übergeben würde, sah der Vertrag ein Rücktrittsrecht der Erwerberin vor. 

A.b. In der weiteren Planung mit der Mieterin zeigte sich, dass die ursprünglich geplante Anfahrt für die Fahrmanöver mit Schleppern und Anhängern nicht genügte, und folglich die Rampenanfahrten baulich anzupassen seien. Als Folge davon musste der Platz im Grenzbereich zwischen der zu bebauenden Parzelle Nr. xxx und der bestehenden Liegenschaft Nr. yyy vergrössert werden, was eine Stützmauer an der Grenze zur Liegenschaft Nr. yyy voraussetzte. Auf dieser Nachbarparzelle betreibt die B.________ AG (Beklagte, Beschwerdegegnerin) ihren Betrieb. Eigentümerin dieser Parzelle ist die F.________ GmbH, welche die Parzelle an die Beklagte vermietet hat. Die Klägerin schloss am 9. März 2016 mit der F.________ GmbH einen Grunddienstbarkeitsvertrag betreffend die Gewährung eines Grenzbaurechts zur Erstellung der Stützmauer ab. Am 22. Februar 2016 reichte sie das ergänzende Baugesuch ein, das vom 1. bis 20. März 2016 öffentlich aufgelegt wurde.  

A.c. Am 10. März 2016 erhob die Beklagte Einsprache gegen die geplante Stützmauer und begründete dies damit, dass diese die Arbeitshygiene in ihren Produktionsräumen stark beeinträchtige (Wegnahme von Tageslicht und der Nichteinhaltung des Grenzabstands). Im Anschluss an zwei Besprechungen zwischen Vertretern der Parteien wurde am 22. März 2016 eine Vereinbarung (nachfolgend: Verzichtsvereinbarung) getroffen. Darin verpflichtete sich die Klägerin, der Beklagten unter allen Titeln (Beeinträchtigungen, mögliche Folgekosten, Ersatzmassnahmen, amtliche und ausseramtliche Kosten, etc.) „à fonds perdu“ den Betrag von Fr. 240’000.– zu bezahlen und die Beklagte verpflichtete sich, ihre Einsprache zurückzuziehen. Die Klägerin überwies die vereinbarte Summe am 22. März 2016, worauf die Beklagte ihre Einsprache zurückzog. Die Gemeinde V.________ bewilligte der Klägerin am 24. März/8. April 2016 den Bau der Stützmauer.  

A.d. Mit Schreiben vom 17. Februar 2017 erklärte die Klägerin, die Verzichtsvereinbarung sei aufgrund von Sittenwidrigkeit und Willensmängeln nichtig bzw. einseitig unverbindlich. Sie verlangte von der Beklagten die Rückzahlung von Fr. 240’000.–, was diese ablehnte.» (BGer 4A_73/2021).

Prozess-History

  • Bezirksgericht Münchwilen
    • Die Klägerin beantragte beim Bezirksgericht Münchwilen, es sei die Beklagte zu verpflichten, ihr Fr. 240’000.– nebst Zins zu bezahlen.
    • Mit Entscheid vom 14. November 2019 wies das Bezirksgericht die Klage ab.
  • Obergericht des Kantons Thurgau
    • Eine gegen den bezirksgerichtlichen Entscheid erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 18. August 2020 ab.
      • Begründung:
        • Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin irrtumsfrei und freiwillig geleistet und sich nicht in einer unzumutbaren starken wirtschaftlichen Bedrängnis befunden habe; sie könne die geleistete Abgeltung von Fr. 240’000.– somit nicht zurückfordern.
  • Bundesgericht
    • Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 1. Februar 2021 beantragte die Beschwerdeführerin, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau sei kostenfällig aufzuheben und die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, ihr den Betrag von Fr. 240’000.– nebst Zins zu bezahlen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht des Kantons Thurgau zurückzuweisen.

Erwägungen des Bundesgerichts

Das BGer erwog angesichts des konkreten Sachverhalts zusammengefasst folgendes:

Rechtsgrundlagen / Rechtsprinzipien

  • Voraussetzungen eines sittenwidrigen bzw. nichtigen Vertrages
    • Ein Vertrag sei dann sittenwidrig, wenn er gegen die herrschende Moral verstosse.
  • Sittenwidrigkeit eines entgeltlichen Verzichts?
    • Grundsatz
      • Die Vereinbarung eines entgeltlichen Verzichts auf eine nicht aussichtslose Baueinsprache gelte grundsätzlich nicht als sittenwidrig.
    • Ausnahme
      • Ein entgeltlicher Verzicht wäre dann sittenwidrig, wenn
        • mit ihm der Baueinsprecher keine eigenen schützenswerten Interessen verfolgen würde;
        • dadurch nur der drohende Verzögerungsschaden des Bauherrn vermindert werden sollte.
      • Bei Vorliegen eines derartigen Sachverhalts wäre auf eine verpönte Kommerzialisierung der Baueinsprache zu schliessen.
  • Folgen eines nichtigen Verzichtsvertrags
    • Sollte sich der Verzichtsvertrag als nichtig erweisen, könnte der Bauherr seine Zahlung, obwohl irrtumsfrei erfolgt, zurückfordern,
      • sofern er diese unfreiwillig erbracht hatte, weil er sich beispielsweise in einer Zwangslage befand.
  • Zwangslage?
    • Voraussetzungen
      • Eine Zwangslage setze die Inkaufnahme unzumutbarer Nachteile voraus, die nicht anders als durch eine Leistung abgewendet werden könnten.
    • Zahlung als einziger Ausweg
      • Die Zahlung müsse als einzig möglicher und zumutbarer Ausweg für den Bauherrn erscheinen.
    • Nicht zwangsweise eine Notlage
      • Der Bauherr, der zwecks Verhinderung einer durch die Einsprache verursachten Bauverzögerung ein Entgelt leiste, befinde sich nicht ohne Weiteres in einer Zwangslage.
    • Keine hohen Anforderungen an den Unzumutbarkeitsnachweis
      • Auch wenn die Anforderungen an den Nachweis der Unzumutbarkeit nicht überspitzt sein dürften, sei doch der Situation Rechnung zu tragen,
        • dass sich der Bauherr für den Rechtsauskauf entscheide,
        • anstatt
          • den Ausgang des Baueinspracheverfahrens abzuwarten und
          • allfällige Verzögerungsschäden als Schadenersatz geltend zu machen.
  • Übervorteilung?
    • Grundlage
      • Das Bestehen einer Notlage bei Abschluss des Verzichtsvertrages knüpfe an das subjektive Element des Vorliegens eines Übervorteilungstatbestands nach OR 21 (siehe Box unten) an.
    • Ausnahme
      • Die Annahme einer wirtschaftlichen Bedrängnis bedinge, dass
        • der Bauherr den Abschluss eines ungünstigen Verzichtsvertrags gegenüber der Inkaufnahme der drohenden Nachteile eines Baueinspracheverfahrens als geringeres Übel betrachte und
        • die Güterabwägung objektiv als vertretbar erscheine.

Subsumtion der konkreten Verhältnisse in die erwogenen Prinzipien

  • Keine Zwangslage
    • Der Bauherr machte nicht geltend, dass
      • das vereinbarte Rücktrittsrecht bei einer Bauverzögerung effektiv ausgeübt worden bzw.
      • der Übergabetermin nicht verhandelbar gewesen wäre.
    • Die Entschädigungssumme machte nur einen tiefen einstelligen Prozentbetrag der gesamten Kosten aus.
      • Der Bauherr befand sich infolge der drohenden Bauverzögerung nicht in einer derart starken wirtschaftlichen Bedrängnis, dass der Abschluss des für ihn ungünstigen Verzichtsvertrags als das kleinere Übel erschien.
  • Keine ungerechtfertigte Bereicherung des Vertragspartners
    • Mangels Zwangslage
      • ergab sich keine Übervorteilung;
      • lag keine unfreiwillige Leistung vor.
    • Die Frage der Sittenwidrigkeit konnte daher offenbleiben.

Fazit

Das BGer

  • priorisiert das Privatautonomie-Prinzip im Vertragsrecht und
  • befürwortet einen Rückerstattungsanspruch des Bauherrn im Anschluss an einen entgeltlichen Verzichtsvertrag nur im Falle von Ausnahmekonstellationen.

Entscheid des Bundesgerichts

  1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
  2. Die Gerichtskosten von Fr. 6’000.– werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
  3. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 7’000.– zu entschädigen.
  4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 

BGer 4A_73/2021 vom 01.06.2021

I. Nichtigkeit

Art. 20 OR

1 Ein Vertrag, der einen unmöglichen oder widerrechtlichen Inhalt hat oder gegen die guten Sitten verstösst, ist nichtig.

2 Betrifft aber der Mangel bloss einzelne Teile des Vertrages, so sind nur diese nichtig, sobald nicht anzunehmen ist, dass er ohne den nich­tigen Teil überhaupt nicht geschlossen worden wäre.

III. Über­vorteilung

Art. 21 OR

1 Wird ein offenbares Missverhältnis zwischen der Leistung und der Gegenleistung durch einen Vertrag begründet, dessen Abschluss von dem einen Teil durch Ausbeutung der Notlage, der Unerfahrenheit oder des Leichtsinns des andern herbeigeführt worden ist, so kann der Verletzte innerhalb Jahresfrist erklären, dass er den Vertrag nicht halte, und das schon Geleistete zurückverlangen.

2 Die Jahresfrist beginnt mit dem Abschluss des Vertrages.

II. Zahlung einer Nichtschuld

Art. 63 OR

1 Wer eine Nichtschuld freiwillig bezahlt, kann das Geleistete nur dann zurückfordern, wenn er nachzuweisen vermag, dass er sich über die Schuldpflicht im Irrtum befunden hat.

2 Ausgeschlossen ist die Rückforderung, wenn die Zahlung für eine verjährte Schuld oder in Erfüllung einer sittlichen Pflicht geleistet wurde.

3 Vorbehalten bleibt die Rückforderung einer bezahlten Nichtschuld nach Schuldbetreibungs- und Konkursrecht.

Die Kommentare sind geschlossen.