Arzthaftung: Hypothetische Patienteneinwilligung bei ungenügender Risikoaufklärung durch den Arzt

OR 394 ff.

Sachverhalt

„A.

X.________ (Beschwerdeführerin) war im Jahre 1982 in Portugal wegen eines Cholesteatoms im rechten Ohr operiert worden. Am 16. Juni 1995 konsultierte sie in Wetzikon Dr. med. Y.________ (Beschwerdegegner). Dieser stellte fest, dass das Cholesteatom nicht vollständig entfernt worden und seit der Operation wieder gewachsen war. Er schlug der Beschwerdeführerin eine erneute Operation zur Entfernung des Restcholesteatoms vor.

Am 28. August 1995 führte der Beschwerdegegner am Ohr der Beschwerdeführerin eine modifizierte Radikalhöhlenoperation mit Cholesteatomausräumung durch. Dabei kam es zu einer Läsion des Gesichtsnervs und zur Eröffnung des lateralen Bogengangs. Am 29. August 1995 wurde die Beschwerdeführerin notfallmässig ins Universitätsspital Zürich eingeliefert. Dort wurde am 30. August 1995 eine Revisionsoperation durchgeführt. Diese verlief insofern erfolgreich, als sich die Gesichtslähmung teilweise zurückbildete. Zurück blieb weiter eine Schallleitungsschwerhörigkeit, welche ein ähnliches Ausmass aufweist wie die schon vor der Operation bestehende Schwerhörigkeit. Im Laufe der Jahre entwickelten sich invalidisierende Schwindelbeschwerden, ein depressiver Zustand und epilepsieartige Anfälle von Bewusstseinsstörung. Seit dem 1. Dezember 1998 ist die Beschwerdeführerin wegen chronischen Schwindelbeschwerden, Müdigkeit, Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen mit Stürzen sowie depressiver Entwicklung zu 100 % arbeitsunfähig. Im Jahre 2011 wurde ihr rückwirkend auf den 1. Dezember 1999 eine ordentliche IV-Rente zugesprochen.

B.

Am 19. März 2004 beantragte die Beschwerdeführerin dem Bezirksgericht Hinwil, der Beschwerdegegner sei zu verpflichten, ihr eine Teilgenugtuung von Fr. 40’000.– zuzüglich Schadenszins zu 5 % seit 23. August 1995 zu bezahlen. Es sei davon Vormerk zu nehmen, dass es sich um eine Teilklage handelt. Der Beschwerdegegner erhob für den Fall, dass auf die Klage eingetreten wird, Widerklage, mit der er um Feststellung ersuchte, dass er der Beschwerdeführerin nichts schuldet. Das Bezirksgericht hiess die Klage am 27. August 2009 nach Durchführung eines Beweisverfahrens teilweise – im Umfang von Fr. 7’500.– nebst Zins – gut und wies sie im Mehrbetrag ab. Mit Beschluss gleichen Datums trat es auf die Eventualwiderklage nicht ein.

Gegen das Urteil des Bezirksgerichts erhoben beide Parteien Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, wobei die Beschwerdeführerin an ihrem erstinstanzlichen Begehren festhielt und der Beschwerdegegner die Abweisung der Klage beantragte. Mit Urteil vom 20. Juni 2011 wies das Obergericht die Klage ab.

C.

Die Beschwerdeführerin beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, in Aufhebung des Urteils des Obergerichts vom 20. Juni 2011 sei der Beschwerdegegner zu verpflichten, ihr eine Genugtuung von Fr. 40’000.– zuzüglich Schadenszins zu 5 % seit 23. August 1995 zu bezahlen. Es sei davon Vormerk zu nehmen, dass es sich um eine Teilklage handelt. Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese nach Ergänzung des Beweisverfahrens in der Sache selber entscheidet.

Der Beschwerdegegner beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Obergericht verzichtete auf eine Vernehmlassung.“

Erwägungen

Die Beschwerdeführerin machte die Haftung des Arztes u.a. mit der Verletzung der Aufklärungspflicht geltend.

Die Vorinstanz hielt dafür, dass die behauptete Aufklärung nicht zweifelfrei den rechtlichen Anforderungen genügte, nahm hingegen eine sog. „hypothetische Einwilligung“ der Beschwerdeführerin an, welche nun vom Bundesgericht mit einlässlicher Begründung (vgl. Erw. 5) geschützt wurde:

Fokus Arzt

  • Gemäss herrschender Rechtsprechung stehe dem Arzt der Nachweis offen, dass der Patient in den Eingriff eingewilligt hätte, wenn er über die damit verbundenen Risiken aufgeklärt worden wäre.

Fokus Patient

  • Vom Patienten wurde im Prozess erwartet, dass er behaupte oder zumindest glaubhaft mache, dass er bei gehöriger Aufklärung die Einwilligung zur Vornahme des Eingriffs – insbesondere aus persönlichen Gründen – verweigert hätte
  • Wirkt der Patient nicht mit, könne nach – dem hier entscheidenden – objektiviertem Massstab darauf abgestellt werden, ob die Eingriffsablehnung vom Standpunkt eines vernünftigen Patienten aus verständlich wäre

Fokus Gerichtsgutachter

  • Der Gerichtsgutachter stufte die einer Cholesteatomoperation inhärenten Risiken wie folgt ein:
    • Erstoperation
      • Risiko im Promillbereich (Facialispares) bzw. einem Prozent (Öffnung des lateralen Bogengangs)
    • Zweioperation
      • Risiko etwas über jenem der Erstoperation
    • Verhältnis von Gesundheitsrisiko des Cholesteatom gegenüber Risiko einer chirurgischen Komplikation
      • Zehnmal höheres Cholesteatom-Gesundheitsrisiko als das Chirurgie-Komplikationsrisiko

Fokus Vorinstanz

  • Einstufung des Gesundheitsrisikos „Cholesteatom“
    • Die VI erwog überzeugend, dass es sich beim „Cholesteatom“ um eine sog. „medizinische Zeitbombe“ handle, welche die Gesundheit des Patienten schwerwiegend gefährde
  • Unvernünftige Eingriffsablehnung
    • Unter den gegebenen Umständen wäre objektiv betrachtet eine Ablehnung des Eingriffs unvernünftig gewesen
  • Patientenobliegenheit, die richterliche Überzeugung der hypothetischen Einwilligung zu erschüttern
    • Es wäre im Prozess am Patienten gelegen,
      • die richterliche Überzeugung der hypothetischen Einwilligung zu erschüttern;
      • seine Lebensumstände und persönlichen Verhältnisse, die gegen eine Einwilligung gesprochen hätten, plausibel zu machen;
      • geltend zu machen, weshalb er
        • in einen echten Entscheidungskonflikt geraten wäre;
        • die Operation abgelehnt oder aufgeschoben hätte;
      • Blosses Behaupten genügte weder nach Ansicht der Vorinstanz noch des Bundesgerichts.

Der Beschwerdeführerin gelang es nicht, den vorausgesetzten wirklichen Entscheidungskonflikt genügend substanziiert plausibel zu machen.

Entscheid

Das Bundesgericht erkannte:

  1. Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten war
  2. Auferlegung der Gerichtskosten von CHF 2’000.– der Beschwerdeführerin
  3. Verpflichtung der Beschwerdeführerin, den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit CHF 2’500.– zu entschädigen
  4. Urteilsmitteilung

Quelle

BGE 4A_499/2011 vom 20.03.2012

Weiterführende Informationen / Linktipps

Die Kommentare sind geschlossen.