OR 398 vs. OR 375?
Der Architekt kann sich nicht seiner Verantwortung mit dem alleinigen Hinweis entziehen, die Überschreitung seines Kostenvoranschlags sei durch eine Überschreitung des ungefähren Kostenansatzes des Unternehmers entstanden.
Lehrmeinung HONSELL [AJP 10/1993, S. 1260 ff.]
Der Beklagte (Architekt) machte unter Hinweis auf HONSELL geltend, dass keine Pflichtwidrigkeit und kein Schaden vorliege, sofern die Ueberschreitung seines Kostenvoranschlags auf Kostenüberschreitungen der Unternehmer zurückzuführen sei und soweit der Bauherr unberechtigte Werklohnschulden begleiche. Weiter wandte der Beklagte ein, dass die Vorinstanz folgende wesentlichen Elemente für die Fallbeurteilung nicht berücksichtigt habe:
- Kostenschätzungsgrundlage = unverbindliche Kostenschätzungen der am Bau beteiligten Unternehmer
- Kostenüberschreitungen des Architekten = u.a. Kostenüberschreitungen der am Bau beteiligten Unternehmer, die nicht dem Architekten angelastet werden könnten
HONSELL qualifiziert den Kostenüberschreitungsschaden nicht als Vertrauensschaden, sondern als positive Vertragsverletzung, weshalb sich der Schadenersatz am Erfüllungsinteresse und nicht am Vertrauensinteresse orientiere. Massgebend sei also, ob der Bauherr ohne die Pflichtverletzung des Architekten hätte weniger bezahlen müssen.
HONSELL setzt für die Architektenhaftung voraus:
- Pflicht des Bauherrn, die höheren Werklohnforderungen der Unternehmer bezahlen zu müssen
- Verschulden des Architekten, die höheren Werklohnforderungen der Unternehmer abgelten zu müssen.
Derselbe Autor hält indessen dafür, dass weder ein Schaden, noch eine Pflichtverletzung vorliege,
- sofern und soweit Kostenüberschreitungen bei unverbindlichen Kostenvoranschlägen gemäss den Grundsätzen von OR 375 Abs. 2 vom Bauherrn zu tragen seien.
Vgl. HONSELL, in: AJP 10/1993, S. 1261.
Lehre und Rechtsprechung anderer Ansicht
Das Obergericht des Kantons Zürich kommt unter Hinweis auf Lehre und Rechtsprechung (Quellenangaben) zum Schluss, die „Ansicht HONSELL“ hätte sich nicht durchgesetzt. HONSELL gehe von falschen Schadensvoraussetzungen aus und scheine eine Pflichtwidrigkeit des Architekten zu verneinen, soweit der Bauherr zu Werklohnzahlungen an den oder die Unternehmer verpflichtet sei.
Unterschiedliche Kostenvoranschläge
Der Kostenvoranschlag des Architekten und der Kostenvoranschlag des Unternehmers (auch: ungefährer Kostensatz des Unternehmers) haben unterschiedliche Voraussetzungen, Funktionen und Folgen (siehe nachfolgende Tabelle), weshalb sich der beklagtische Architekt – gemäss Obergericht des Kantons Zürich – nicht unter dem alleinigen Hinweis, die Ueberschreitung seines Kostenvoranschlages beruhe auf der Kostenüberschreitung der Unternehmer aus der Verantwortung stehlen könne.
Gegenüberstellung der unterschiedlichen Voraussetzungen, Funktionen und Folgen von Architekten-Kostenvoranschlag und Unternehmer-Kostenvoranschlag |
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Gegenstand |
Architekten-Kostenvoranschlag |
Unternehmer-Kostenvoranschlag |
Begriffe (Termini) |
Kostenvoranschlag |
Ungefährer (Kosten-)Ansatz |
Ausgangslage |
Bauprojekt |
Beabsichtigte Bauwerkerstellung |
Grundlage |
OR 398 Ziffer 2.1 des Vertrags für Architekturleistungen und Art. 4.32 SIA-Ordnung 102 |
OR 375 Abs. 2 |
Gesetzesartikel |
Art. 398 OR 2. Haftung für getreue Ausführung a. Im Allgemeinen 1 Der Beauftragte haftet im Allgemeinen für die gleiche Sorgfalt wie der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis. 2 Er haftet dem Auftraggeber für getreue und sorgfältige Ausführung des ihm übertragenen Geschäftes. 3 Er hat das Geschäft persönlich zu besorgen, ausgenommen, wenn er zur Übertragung an einen Dritten ermächtigt oder durch die Umstände genötigt ist, oder wenn eine Vertretung übungsgemäss als zulässig betrachtet wird. |
Art. 375 OR C. Beendigung I. Rücktritt wegen Überschreitung des Kostenansatzes 1 Wird ein mit dem Unternehmer verabredeter ungefährer Ansatz ohne Zutun des Bestellers unverhältnismässig überschritten, so hat dieser sowohl während als nach der Ausführung des Werkes das Recht, vom Vertrag zurückzutreten. 2 Bei Bauten, die auf Grund und Boden des Bestellers errichtet werden, kann dieser eine angemessene Herabsetzung des Lohnes verlangen oder, wenn die Baute noch nicht vollendet ist, gegen billigen Ersatz der bereits ausgeführten Arbeiten dem Unternehmer die Fortführung entziehen und vom Vertrage zurücktreten. |
Wer an wen |
Architekt an Bauherr |
Unternehmer an Besteller (Bauherr) |
Funktion |
Verbindliche Auskunft |
blosse Vorstellungsäusserung |
Motive |
Budgetierung Bauinvestment für Refinanzierung und Vergabe |
Eröffnung im Hinblick auf den angestrebten Vertragsabschluss |
Fokus |
Mutmasslicher Preis der fremden Bauleistungen |
Mutmasslicher Preis der eigenen Werkleistungen |
Rechtsgrundlage |
Kostenvoranschlagspflicht ist Teil der vom Architekten geschuldeten Leistung im Rahmen seiner Hauptleistungspflicht als Planer |
Kein rechtsgeschäftlicher Charakter |
Geschuldete Leistung |
Auskunft über mutmasslichen Preis fremder Bauleistungen |
weder vertragliche Haupt-, noch Nebenpflicht |
Wirkung |
verbindlicher Kostenvoranschlag |
unverbindliche Schätzung des mutmasslichen Kostenansatzes |
Entschädigung |
entgeltlich |
Unentgeltlich |
Haftung / Folgen |
Haftung |
Recht zum Vertragsrücktritt (nicht Vertragsverletzung, da den Unternehmer keine Pflicht zur Einhaltung des ungefähren Kostenansatzes trifft) |
Keine gegenseitigen Relevanzen |
Keine unbesehene Übertragung der rechtlichen Grundsätze, die für den einen Sachverhalt gelten, auf den andern Tatbestand, d.h. es können weder die Grundsätze des Architekten-Kostenvoranschlags (OR 398) auf den Unternehmer, noch die Grundsätze des „ungefähren Kostenansatzes“ des Unternehmers (OR 375) auf den Architekten übertragen werden |
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Ergebnis |
Ein Architekt kann sich nicht alleine durch die Geltendmachung, die Überschreitung seines Kostenvoranschlags beruhe auf einer Überschreitung des Kostenansatzes der Unternehmer, exkulpieren. |
Quelle
Urteil OGer ZH, I. Zivilkammer, vom 24.06.2013 (LB 120048), in:
ZR 112 (2013) Nr. 26 S. 95 ff.