Lehman-Brothers: Anlageberatung sowie Emittenten- und Bonitätsrisiko

Im Verfahren 4A_525/2011 hat das Bundesgericht Gelegenheit erhalten, sich zu verschiedenen Aspekten einer Bank im Rahmen eines Anlageberatungs-Verhältnisses zu äussern.

Sachverhalt

Streitgegenstand bildeten Verluste im Zusammenhang mit einem von Lehman Brothers emittierten strukturierten Produkt („CPU Plus“ (Valor 2233275)). Der betroffene Anleger warf seiner Bank (Credit Suisse AG) die Missachtung ihrer Informations-, Warn- und Sorgfaltspflichten vor. Der vom Kläger verlangte Schadenersatzbetrag ergibt sich aus dem Kaufpreis des im Juli 2005 gekauften Anlageproduktes „CPU Plus“ von CHF 3’000’000.– abzüglich des Verkaufserlöses dieses Produktes von CHF 89’145.– auf dem Sekundärmarkt. Der Verkauf erfolgte nach Zusammenbruch der Emittentin des Produktes und der Garantin, Lehman Brothers Treasury Co. B.V. und Lehman Brothers Holdings Inc. (nachfolgend „Lehman“).

Prozessgeschichte

Mit Teilurteil vom 23.05.2011 wies das Handelsgericht das Rechtsbegehren 1 ab (Dispositiv Ziffer 1). Es verpflichtete die Beschwerdegegnerin jedoch zur umfassenden Rechenschaftsablegung gemäss Rechtsbegehren 2a (Dispositiv Ziffer 2). Sodann hielt es fest, dass über das Rechtsbegehren 2b erst nach Auskunftserteilung gemäss Dispositiv Ziffer 2 entschieden werde (Dispositiv Ziffer 3).

Begründung der Vorinstanz

Das Handelsgericht qualifizierte das Vertragsverhältnis der Streitparteien, auf das die Beschwerdeführerin ihre Ansprüche stützte, als Anlageberatungsvertrag. Die Abweisung des Rechtsbegehrens 1 begründete es damit, dass die Beschwerdegegnerin keine Informations-Pflichten verletzt habe. Gleiches gelte eventualiter für die Verletzung der Sorgfalts- und Treuepflicht im Allgemeinen sowie für die Verletzung der Warnpflicht im Besonderen.

Bundesgerichts-Erwägungen

Die Beschwerdeführerin verlangt Schadenersatz infolge Missachtung vertraglicher bzw. börsengesetzlicher Pflichten der Beklagten. Die Verletzung der Aufklärungs- und Informationspflicht begründet sie im Wesentlichen damit, dass die Beschwerdegegnerin sie nicht über das Emittentenrisiko und über die „Auslandrisiken“ (wie namentlich eine allfällig fehlende bzw. ungenügende Aufsicht über US Investment Banken) aufgeklärt habe.

Vorweg macht das Bundesgericht eine Auslegeordnung der denkbaren Vertragsverhältnisse:

  • Konto- / Depotbeziehung
  • Anlageberatung
  • Vermögensverwaltung

Unbestrittenermassen liegt ein konkludent abgeschlossener, auf Dauer angelegter Anlageberatungsvertrag vor [vgl. Erw. 3.1].

„Am umfassendsten ist die Aufklärungs- und Beratungspflicht bei der Vermögensverwaltung (dazu BGE 124 III 155 E. 3a S. 162 f.). Wie weit die Aufklärungs- und Beratungspflicht bei der Anlageberatung im Einzelnen geht, kann nicht allgemein festgelegt werden, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, namentlich von der Ausgestaltung des jeweiligen Beratungsverhältnisses, der Art des konkreten Anlagegeschäftes sowie der Erfahrung und den Kenntnissen des Kunden (Urteil 4C.205/2006 vom 21. Februar 2007 E. 3.2, SJ 2007 I S. 313)“ [vgl. Erw. 3.2].

Im Einzelnen bedeutet dies für Kläger und Beklagte:

  • Informationspflichten des Effektenhändlers gegenüber seinem Kunden im Sinne von BEHG 11?[Erw. 3.3]
    • Hinweis auf die mit einer bestimmten Geschäftsart verbundenen Risiken [vgl. BEHG 11 Abs. 1]
      • Aufklärungspflicht bezüglich der Risiken einer bestimmten Geschäftsart, nicht aber bezüglich der Risiken einer bestimmten Effektenhandelstransaktion [BGE 133 III 100 Erw. 5.3]
      • Aufklärungspflicht nur über „nicht-übliche“ Risiken, da der Effektenhändler davon ausgehen darf, dass jeder Kunde kenne die mit dem Kauf, dem Halten und dem Verkauf von Effekten verbundenen Risiken (= sog. Standardrisiken)
        • zu den Standardrisiken zählen
          • Kursrisiken
          • Bonitätsrisiken [mit Hinweisen]
  • Berücksichtigung von Geschäftserfahrenheit und fachlichen Kenntnissen des Kunden [vgl. BEHG 11 Abs. 2]
  • Keine börsengesetzliche Informationspflichten bestehen für
    • Erforschung der finanziellen Verhältnisse des Kunden
    • Beurteilung, ob die Transaktion für einen bestimmten Kunden geeignet ist (sog. „Suitability“-Prüfung)
  • Keine Erkundigungs- und Beratungspflicht des Effektenhändlers [BGE 133 III 97, Erw. 5.4]
  • Informationspflichten bei strukturierten Produkten?[Erw. 5.2]
    • ebenfalls keine Aufklärungspflicht für Emittenten- und Bonitätsrisiko
      • Kläger kann besonderes Emittentenrisiko im Verhältnis zu anderen Finanzanlagen nicht dartun
  • CPU Plus = Kombination verschiedener Finanzinstrumente
    • Basisanlagen-Teil
      • Aktien oder Obligationen
      • Risiko mit Obligationen vergleichbar
    • Derivate-Teil
      • Höheres Risiko denkbar
    • Risikovergleich ändere nichts daran, dass Emittent das investierte Kapital nicht zurückzahlen könne
  • Eventualbegründung der Vorinstanz [Erw. 5.3]
    • Wollte man das Emittentenrisiko als unübliches betrachten, läge keine Informationspflicht-Verletzung vor, weil sich der Kläger mit den Risiken von Obligationen, Festgeldern und ähnlichen Transaktionen auskenne
      • Ueber bekanntes müsse nicht informiert werden
    • Angebot eines Produktes mit Kapitalschutz
      • Kläger macht geltend es sei eine Sicherheit vorgespiegelt worden, die in diesem Umfang nicht vorgelegen habe
      • Bundesgericht erwidert, dass gemäss vorinstanzlichen Feststellungen aus dem sogenannten „fact sheet“ klar hervorgegangen sei, was unter „Kapitalschutz“ zu verstehen sei, nämlich die Rückzahlung (des investierten Kapitals) durch den Emittenten
      • Beklagte weist daraufhin, dass ein von der Klägerin ausgeschlagenes Erläuterungsangebot gemacht worden sei (= Kenntnis des Emittentenrisiko seitens der Klägerin; Qualifikation, zB Verzicht, irrelevant) [Erw. 5.4]
      • Fehlen einer prudentiellen Aufsicht für Lehman Brothers in den USA[Erw. 5.5]
        • Irrelevant, auch weil Informationspflicht verneint
        • Keine Geltendmachung, dass das Aufsichts-Risiko bereits 2005 bestanden habe
        • Weitere Argumente [keine Wiedergabe an dieser Stelle]
        • Keine Benachteiligung des Kunden aus Interessenkonflikten beim Effektenhändler [vgl. BEHG 11 Abs. 1 lit. c; Erw. 5.6]
        • Keine Bundesrechtsverletzung der Vorinstanz in Bezug auf Informationspflicht nach BEHG 11 [Erw. 5.7]
        • Verletzung der auftragsrechtlichen Aufklärungspflicht?[Erw. 6]
          • Beklagte macht auftragsrechtliche Aufklärungspflicht zum Emittentenrisiko geltend; Wiederholung der Argumente von BEHG 11
          • Bundesgericht geht davon aus, dass keine Aufklärungspflicht bestehe, mit den Argumenten von Erw. 5.3 [Erw. 6.1]
          • Wiederholung der Vorwürfe zum Fehlen einer prudentiellen Aufsicht [Erg. 6.2]
          • Bundesgericht verneint eine Verletzung der auftragsrechtlichen Aufklärungspflicht [Erw. 6.3 + 6.4]
          • Verletzung der Sorgfalts- und Treuepflicht aus Anlageberatungsvertrag?[Erw. 7]
            • Feststellung der Vorinstanz, dass CPU Plus dem bisherigen Anlageverhalten und der Risikowilligkeit der Klägerin entsprochen hätte [Erw. 7]
            • Feststellung der Vorinstanz, wonach die Empfehlung des Produkts CPU Plus kein Sorgfaltspflichtverstoss beinhalte [Erw. 7.1]
            • Feststellung der Vorinstanz, dass die Klägerin keinen ausdrücklichen Anlagehorizont gewünscht habe und die Auswahl einer ausländischen Bank stillschweigend bzw. konkludent genehmigt [Erw. 7.2]
            • Beurteilung des Bundesgerichts, dass die Beklagte die auftragsrechtliche Sorgfalts- und Treuepflicht nicht verletzt habe [Erw. 7.3]
            • Warnpflicht der Bank, den Kunden in bestimmten Situationen unaufgefordert vor sich abzeichnenden Gefahren zu warnen?[Erw. 8]
              • Warnpflicht bezüglich einer wesentlichen Bonitätsverschlechterung eines Emittenten von im Depot liegenden Obligationen? [Erw. 8.1]
                • Voraussetzung
                  • Weniger weitgehende Pflichten des Anlageberaters gegenüber jenen des Vermögensverwalters
                    • Keine Pflicht zur dauernden Ueberwachung des Wertschriftendepots des Kunden [Erw. 8.1]
      • Auftrag für ständige Depotüberwachung (= aufwändige, üblicherweise nicht unentgeltliche Dienstleistung)
      • Ohne anderslautende Vereinbarung grundsätzlich nicht zu erwarten, dass die Bank das Wertschriftendepot dauernd überwacht und ggf. auf Gefahren hinweist [Erw. 8.1, mit Hinweisen]
  • Zustimmung verdiendende Ansicht der Klägerin, „dass sich in einem Anlageberatungsverhältnis mit entsprechender Vertrauensbasis auch ohne ausdrückliche Vereinbarung nach Treu und Glauben ausnahmsweise dennoch eine Überwachungs- und Warnpflicht ergibt, dies jedoch nur in dem Sinn, dass die Bank, wenn sie mit dem Kunden in Kontakt ist und das Anlagedossier ohnehin zur Hand nehmen muss, auf offensichtliche Problemsituationen hinweisen muss (URS BERTSCHINGER, Sorgfaltspflichten der Bank bei Anlageberatung und Verwaltungsaufträgen, 1991 S. 225; ABEGGLEN, a.a.O., Vermögensverwaltung II, S. 77)“ [Erw. 8.1]
    • Vorinstanz war zu Recht der Ansicht, dass
      • der Zusammenbruch von Lehman für alle Marktteilnehmer überraschend gekommen sei;
      • bis zu letzt sämtliche Ratingagenturen Lehman als kreditwürdig beurteilt hätten;
      • es der Beschwerdeführerin nicht gelungen sei, die Feststellungen der Vorinstanz als willkürlich auszuweisen;
      • der Zusammenbruch von Lehman auch für die Bank überraschend gekommen sei;
      • kein offensichtlicher Fall vorlag, der nach Treu und Glauben eine Warnpflicht der Bank hätte begründen können;
      • die Anstellung der früheren Finanzchefin von Lehman, Z.________, durch die Bank keinen Anhaltspunkt für eine andere Beurteilung gebe [Erw. 8.2]
      • die Klägerin mit ihrer Behauptung, die Beschwerdegegnerin habe im März 2008 die Geschäftsbeziehungen mit Lehman abgebrochen und eigene Bestände von Lehman Produkten abgestossen, vom vorinstanzlich verbindlich festgestellten Sachverhalt abweiche; die Vorinstanz habe gestützt auf den Bericht der FINMA vom 2. März 2010 (S. 4 und 17) festgestellt, die Bank sei vom Konkurs von Lehman ebenso betroffen gewesen wie ihre Kunden; die Beschwerdegegnerin habe Kunden- und Eigenbestände gleich behandelt [Erw. 8.2].
      • es der Beschwerdeführerin nicht darzutun gelungen sei, die Beschwerdegegnerin habe von der bevorstehenden Insolvenz von Lehman Kenntnis gehabt bzw. habe davon Kenntnis haben müssen
      • die Bank keine diesbezügliche Warnpflicht verletzt haben könne, wenn denn eine solche grundsätzlich bejaht würde [Erw. 8.2].
  • Standhalten des angefochtenen Urteils der bundesgerichtlichen Überprüfung, soweit es die Verletzung einer Warnpflicht verwerfe [Erw. 8.3].

Bundesgerichts-Urteil

Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.

Quelle

BGE 4A_525/2011 vom 03.02.2012 | polyreg.ch

Weiterführende Informationen / Linktipps

Gerichtsentscheide | anlegerschutz.ch

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